Aktuelle Literatur zur Trauer

Trauer und Freude (Verlag Klett-Cotta erschienen Febr. 2021)
Bewusste Gefühle – Kräfte in der Krise

Das Buch „Trauer und Freude“ zeigt Wege, wie Menschen, die Verluste erfahren, neue Kräfte gewinnen können. Oft reagieren wir bei Verlusten mit Flucht, Aggression oder auch mit Erstarrung. Das sind uralte Reaktionsweisen, die wir mit Reptilien gemeinsam haben und die uns das Überleben ermöglichen können. Weiter hingegen führen uns bewusste Gefühle, mit denen wir die Situation wahrnehmen, reflektieren und gestalten können. Zu diesen Gefühlen gehört die Trauer. Sie ist auf das Mitteilen ausgerichtet, sie kann erleichtern und kann Stress reduzieren. Fühlen sich Trauernde aufgenommen und gut begleitet, können Tränen der Trauer zu Tränen der Freude werden. Der Zusammenhang von Trauer und Freude erscheint zunächst ungewöhnlich, die Verbindung beider Gefühle wird aber eingehend begründet und anschaulich dargestellt. Dabei ist dieses Buch ein Grenzgänger zwischen verschiedenen Wissenschaften und Kulturen sowie zwischen Theorie und Praxis. „Diese Bündelung von Wissen und Erfahrung … ist so sicherlich einzigartig.“ (Prof. Dr. med. Günter H. Seidler zu diesem Buch).
Biologische Erkenntnisse zeigen: Beide Gefühle Trauer wie Freude können dazu beitragen, das Alarmsystem im Gehirn herunterzufahren; sie können den Körper durcheinanderschütteln und Entspannung ermöglichen, auch wirken sie ansteckend und können dazu führen, dass andere mitfühlen. Trauernde können so besser verstehen, welche Prozesse in ihnen vor sich gehen und wie sie sie gestalten können.
In der Antike zeigt sich, dass Tragödie und Komödie heilende Wirkungen haben. Im Christentum wird der Verlust Jesu durch seinen Tod am Kreuz in tiefer Trauer erlebt, dann wird die Auferstehung Jesu in großer Freude gefeiert. Im Islam erleidet Maria bei der Geburt ihres Sohnes zunächst Verlassenheit und Verzweiflung, dann aber entdeckt sie, dass ein Bach zu ihren Füßen fließt und der Palmbaum neben ihr reife Datteln gibt; so kann sie ihr Auge „erheitern“. In Kulturen Afrikas südlich der Sahara werden die Gefühle nach dem Tod eines Menschen in der Gemeinschaft zum Ausdruck gebracht, im Singen und Trommeln, in Worten und im Tanzen. Meist wird die Bestattung als großes Fest gefeiert, dabei gehen Trauer und Freude oft ineinander über. Bei dem Tag der Toten in Mexiko wird die Anwesenheit der Toten zuhause und dann am Grab festlich begangen, auf dem Friedhof wird zusammen gegessen und getrunken, musiziert und getanzt. Rituale dieser Art werden in vielen Teilen der Welt praktiziert. Auch in Deutschland gibt es zunehmend eine Vielfalt kreativer Trauerweisen. Manche Begleitungen stehen unter dem Leitsatz: „Wer der Trauer Raum gibt, schafft Platz für das Lachen.“

In der Corona-Krise werden Verluste als besonders schmerzlich empfunden. Umso wichtiger ist es, die Gefühle zum Ausdruck zu bringen und Gemeinschaft zu erfahren. Verbindende Symbole und Rituale sind gerade jetzt wichtig, so zum Beispiel das „Lichtfenster“: Jeden Freitagabend wird eine Kerze zur Erinnerung an die Verstorbenen an das Fenster gestellt. Manche haben das „Band der Solidarität“ als Zeichen gewählt, um sich symbolisch miteinander zu verbinden. Verlust bezieht sich in der Krise nicht nur auf den Abschied vertrauter Menschen. Verlust bedeutetet in dieser Zeit auch, die bisherige „Normalität“ zu verlieren, Nichts ist mehr so planbar wir vor der Krise. Die Gewalt in den USA hat gezeigt, wie sich Flucht und Aggression als instinktive Reaktionen auswirken können. Ein Modell für die Zukunft kann das Verhalten Joe Bidens sein. Er hat in seinen persönlichen schweren Verlusterfahrungen der Trauer Raum gegeben und hat die Fähigkeit gewonnen, mit anderen Menschen mitzufühlen. Das gibt vielen Grund zur Hoffnung. Durch die Krise hindurch kann eine „neue Normalität“ entstehen, in der Trauer und Freude mehr Raum haben und zum Ausdruck kommen. Dadurch kann mehr Mitfühlen und Solidarität entstehen, die gerade in dieser Zeit so notwendig ist.
So kann das Buch Trauernden Anregungen geben, sich in ihren unterschiedlichen Gefühlen selbst besser zu verstehen und ihren eigenen Weg durch die Trauer zu finden. Darüber hinaus zeigt das Buch, wie die Krisensituationen dadurch gestaltet werden können, dass Gefühle bewusst wahrgenommen und mitgeteilt werden. Das kann ein Schritt sein hin zu einem einfühlenden persönlichen Leben und zu einer solidarischen Gesellschaft.

Klaus Onnasch